„Autonomous Mobility-on-Demand“ - Vom Skizzenblock auf die Strasse

Lukas Flohr Senior UX Designer • Specialist Mobility

Dorian Bauer Principal UX Software Engineer • Team Lead & Technology Lead Flutter

05.05.2022 • minutes reading time

In nicht allzu ferner Zukunft könnten sogenannte „Autonomous Mobility-on-Demand“ (kurz „AMoD) -Systeme“ ein rund um die Uhr verfügbares, kostengünstiges und flexibles Mobilitätsangebot bereitstellen, das ohne feste Fahrpläne und Haltestellen sowie ohne Fahrer:innen auskommt und noch dazu vollständig über digitale Benutzerschnittstellen gesteuert wird.

Im vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMVI) geförderten Forschungsprojekt APEROL (Autonome, personenbezogene Organisation des Strassenverkehrs und digitale Logistik) haben wir uns mit der Gestaltung der AMoD-Systeme, deren Entwicklung sowie Evaluation beschäftigt – ganzheitlich und mensch-zentriert. In unserem ersten Insights-Artikel zu APEROL haben wir bereits das Projekt und die Projektpartner sowie die Motivation und die Kernfragen des Projekts vorgestellt. In diesem Artikel beleuchten wir den Gestaltungs- und Entwicklungsprozess.

Eine Fotocollage mit handgezeichneten Scribbels zur Aperol App.
Scribbles

Vor der Reise: Herausforderungen und Anforderungen identifizieren

Die Entwicklung eines AMoD-Systems erfordert die Berücksichtigung der durchaus heterogenen Bedarfe diverser Stakeholder – von Bürger:innen über Mobilitätsdienstleister, Verkehrsunternehmen und Tourenplaner bis hin zu Stadtplanern und Kommunen. Unsere kollaborative, methodische Vorgehensweise ermöglichte uns, diese im Projekt zu balancieren und in die Entwicklung mit einzubeziehen.

Der Erfolg von AMoD ist abhängig von der Akzeptanz und dem Vertrauen der Bevölkerung. Daher wurden die zukünftigen Fahrgäste bereits in frühen Phasen kontinuierlich mit einbezogen – etwa mit diversen Online-Befragungen mit insgesamt mehreren tausend Teilnehmer:innen oder im Rahmen eines repräsentativen Bürgerdialogs in Aachen mit 89 Teilnehmer:innen. Mittels weiterer Stakeholder-Workshops wurden zudem technische, wirtschaftliche und organisatorische Anforderungen definiert. Auf Basis dieser Findings erarbeiteten wir so Nutzungsszenarien und User Journey Maps, um mit unseren Projektpartnern auf einer gemeinsamen Basis diskutieren zu können.

Fotocollage zu Aperol mit verschienden Meetingssituation und dem Aperol Shuttel.
Gestaltungsprozess

Auf grosser Fahrt: Der Gestaltungsprozess

Wie können wir eine effektive, effiziente und zufriedenstellende Interaktion von Fahrgästen und dem autonomen Service vor, während und nach der Fahrt schaffen? Diese Frage stellte sich uns zu Beginn des Gestaltungsprozesses.

Digitale Nutzerschnittstellen und eine vertrauensbildende Kommunikation nehmen hier zentrale Rollen ein. Für die Konzeption der Nutzerschnittstellen erstellten wir aufbauend auf den User Journey Maps und gemeinsam mit unseren Projektpartnern einen detaillierten Anforderungskatalog, welcher die Systemfunktionen und technischen Anforderungen beschreibt und bewertet.

Der Dienst wurde dazu konzipiert, die Nutzer:innen während der gesamten AMoD Journey zu unterstützen:

User Journey Map von Aperol.
User Journey Map
Aperol Video Screen mit Logo von Aperol.

Die Entwicklung einer mobilen Companion-App, welche sämtliche Services des fiktiven AMoD-Systems für die Nutzer:innen bündelt, ist essenziell. Ferner berücksichtigen wir weitere Touchpoints der zukünftigen Anwender:innen, wie beispielsweise die Interaktion in und am Fahrzeug, etwa via Fahrgast-Informationsanzeigen im Fahrzeug-Innenraum. Hier stellte sich somit auch die Frage, welche Interaktionsformen in verschiedenen Situationen am besten geeignet sind. Neben dem konzipierten „klassischen“ graphischen UI (GUI) haben wir dabei insbesondere das Konzept textbasierter Conversational UIs (Chatbots) genauer unter die Lupe genommen.

Details hierzu haben wir auf der ACM MobileHCI Conference 2021 vorgestellt.

Nächster Halt: Kontextbasierte Evaluation im Usability Lab

Wie fühlt es sich an, in einem fahrerlosen Shuttle zu sitzen? Welche Features im Fahrzeug und der App sorgen für eine vertrauensvolle Kommunikation und verbessern das Sicherheitsgefühl? Da fahrerlose Fahrzeuge derzeit nur unter eingeschränkten Bedingungen verfügbar sind, handelt es sich bei AMoD aktuell noch um ein eher „theoretisches“ Thema mit vielen offenen Fragen – eine gestalterische Herausforderung!

Daher erstellten wir zur realistischen Evaluierung der Konzepte einen videobasierten Simulator. Das Setup: Mit einem Aufbau aus Lautsprechern und Beamern bzw. Bildschirmen schufen wir mittels Audio- und Videoaufnahmen aus dem realen Strassenverkehr eine audiovisuelle Simulation. Diese relativ einfache, aber – wie unsere Ergebnisse zeigen – doch relativ immersive Methode, ermöglichte uns die kontextbasierte Prototypenentwicklung und Evaluation der Konzepte bereits in frühen Entwicklungsphasen.

Vergleichende Evaluation von GUI und Chatbot entlang der gesamten User Journey im videobasierten Simulator.
Vergleichende Evaluation von GUI und Chatbot entlang der gesamten User Journey im videobasierten Simulator.

Details hierzu haben wir in unserem Paper auf der ACM Designing Interactive Systems Conference 2020 vorgestellt.

Ein Blick ins Getriebe: Cross-platform Entwicklung mit Flutter

Zur Umsetzung des APEROL Frontends kam das cross-platform Framework Flutter zum Einsatz. Im Gegensatz zu anderen Technologien setzt Flutter auf eine eigene Widget Library mit Nachbauten der jeweiligen plattformnativen UI-Komponenten. Dadurch hat Flutter — unabhängig von der jeweiligen Plattform und deren Version — die volle Kontrolle über das Rendering des UIs. Zudem geht die Anpassung bestehender Widgets schnell von der Hand und eigene Widgets können mit nahezu grenzenlosen Möglichkeiten deklarativ erstellt werden.

Für die zeiteffiziente und zugleich qualitativ hochwertige Umsetzung des APEROL Custom UI war Flutter somit ideal. Backend-seitig greift die App über eine gemeinsam mit den Forschungspartnern spezifizierte Schnittstelle auf ein komplexes System cloudbasierter Algorithmen zur Tourenplanung (PSItms) und Verkehrssimulation (MATSim) zurück.

Illustration zu den Benutzerschnittelstellen von Aperol mit einer Strassenkarte und Figuren, die ein Smartphone bedienen.
Entwickelte Benutzerschnittstellen für die on-demand Testfahrten des APEROL Gesamtsystems im Realverkehr.

Auf der Zielgeraden: Systemtest im Realverkehr mit Wizard-of-Oz Fahrzeug

Nach diversen Workshops, Evaluationen und Iterationen der Apps bog APEROL auf die Zielgerade – mit einer summativen Evaluation des On-Demand-Gesamtsystems im realen Strassenverkehr von Aachen und Saarbrücken. Ziel war es, neben den Nutzerschnittstellen insbesondere auch die Backend- und Tourenplanungskomponenten zu evaluieren. Hierbei wurde ein konventionelles Fahrzeug (mit Fahrer) eingesetzt. Um den Studienteilnehmer:innen während der Testfahrten dennoch das Gefühl einer automatisierten Fahrt zu geben, setzten wir ein ‚Wizard-of-Oz‘ Fahrzeug-Set-up um.

Den Teilnehmer:innen wurde im Vorfeld die Companion App zum Download via Microsoft AppCenter bereitgestellt. Die Ergosign-Kolleg:innen in Saarbrücken konnten an den Versuchstagen im März 2021 zwei beliebige Fahrten on-demand buchen - z. B. von zu Hause zur Arbeit (aufgrund der anhaltenden Pandemie unter Einhaltung entsprechender Hygienekonzepte). Um dabei auch die Bedeutung von Fahrgast-Informationsanzeigen im Innenraum zu untersuchen, erhielten die Teilnehmer:innen während einer der beiden Fahrten Informationen zum Fahrtverlauf über die Passagier-Informationsapp, während der jeweils anderen nicht.

Das leichtgewichtige Wizard-of-Oz Set-up zeigte sich als geeignete Möglichkeit zur „Simulation“ von AMoD im Realverkehr. Die Teilnehmer:innen sollten nach Möglichkeit vorab auf geringe Anfälligkeit bzgl. Simulator-/Reisekrankheit selektiert werden. Die Kontrollierbarkeit der realen (on-demand) Testfahrten war – im Vergleich zu Labor-Studien – stark eingeschränkt (Verkehrsaufkommen, Verspätungen, Buchungsparameter etc.). Die Verfügbarkeit von Informationen über in-vehicle Displays scheint einen entscheidenden positiven Einfluss auf die Akzeptanz und somit die UX von AMoD zu haben.

Blick auf ein iphone mit Aperol App.

Wie geht die Reise weiter?

Die Erkenntnisse aus dem Gestaltungs- und Entwicklungsprozess von APEROL können direkt in die Entwicklung zukünftiger Systeme einfliessen und so den Verkehrswandel der nächsten Jahre und darüber hinaus prägen — mensch-zentriert, bedarfsorientiert und nachhaltig!

Mit entsprechender Flottengrösse wären die Vorteile:

  • Soziale Teilhabe – Durch den vereinfachten Mobilitätszugang wird insbesondere auch derzeit mobilitätseingeschränkten Personen ein flexibles Angebot offeriert und eine damit verbundene soziale Teilhabe ermöglicht.

  • Nachhaltigkeit – Durch die geteilten Fahrten in vollelektrischen Fahrzeugen vermindern sich das Verkehrsaufkommen sowie der Schadstoffausstoss bei zeitgleich wachsender Verkehrsleistung.

  • Effizienz/Komfort – Durch die fahrerlosen Fahrten kann die Reisezeit von allen Fahrgästen flexibel genutzt werden – etwa zur Entspannung oder zum Arbeiten. Dadurch ergibt sich ein Effizienz- und Komfortgewinn.

  • Flexibilität – Durch die flexible Fahrtenbuchung werden starre Fahrpläne und Haltestellen nicht mehr notwendig. Nutzer:innen können Fahrten ganz nach ihrem eigenen Bedarf buchen und anpassen.