IMEDALytics: Healthcare Machine Learning – Teil 2

Annika Kaltenhauser Senior UX Designer • Senior UX Designer

Dr. Verena Rheinstädter Senior UX Researcher • Solution Expert User Research & Qualitative Methods

22.02.2021 • 7 minutes reading time

Wie können Designer dabei helfen, die Versorgung von Patienten auf Intensivstationen zu verbessern? Genau an dieser Frage arbeiten wir im Forschungsprojekt IMEDALytics.

In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit der Bedeutung von drei Kontextanalysen, die wir im Projekt durchführten — und mit den wertvollen Erkenntnissen, zu denen wir auf dieser Basis gelangten. Alle Details rund um die Problemstellung und Zielsetzung des Projekts erfahren Sie im ersten Teil des Artikels.

Nutzungskontext des Systems verstehen

Damit wir eine gute User Experience gewährleisten können, müssen wir uns ein umfassendes Verständnis der vorgesehenen Nutzerinnen und Nutzer und der technischen Möglichkeiten des zukünftigen Systems erarbeiten.

Contextual Inquiries

Nach einem Scoping Workshop mit allen Projektpartnern statteten wir den Intensivstationen des Uniklinikums Aachen und des Klinikums Dortmund insgesamt drei Besuche ab. Hierbei konnten wir den Arbeitsalltag auf verschiedenen Intensivstationen beobachten und gleichzeitig auf das medizinische Fachwissen des Personals — also der zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer — zurückgreifen.

Contextual Inquiries verbinden Beobachtungen und Interviews und sind für uns als UX Designer in diesem Projekt unersetzlich. Sie bieten uns die einmalige Gelegenheit, den Nutzungskontext, die Nutzer und Nutzerinnen sowie wichtige Faktoren, die die Entscheidungen und Handlungen der Healthcare Professionals in ihrem stressigen Arbeitsalltag beeinflussen, zu identifizieren.

Neben diesen Einblicken in den realen Alltag identifizierten wir durch die Besuche, wie wir IMEDALytics so in den Klinikalltag des Medizin- und Pflegepersonals integrieren können, dass das System eine tatsächliche Unterstützung darstellt.

Gewonnene Erkenntnisse

Übergaben

Es war aufschlussreich, zu beobachten, dass es informelle und formelle Informationsübergaben sowie synchrone und asynchrone Kollaborationen zwischen dem Personal gibt. So finden Schichtübergaben statt zwischen

  • den Ärztinnen und Ärzten untereinander

  • den Pflegekräften und Ärzten und den

  • Pflegekräften untereinander

Zusätzliche Absprachen passieren spontan — insbesondere, wenn eine zweite Meinung gefragt ist. Bei Untersuchungen werden weitere Informationen ausgetauscht und Entscheidungen gemeinschaftlich gefällt.

Rollenverteilung

Während die Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten in grösseren Zeitabständen sehen und über die geeignete Therapie entscheiden, sehen die Pflegekräfte Patientinnen und Patienten häufiger und sind für das Monitoring des Zustandes sowie die Zielerreichung zuständig. Ihre Beobachtungen über den Zustand der Patienten und Patientinnen und den Erfolg verordneter Massnahmen sind Teil des Entscheidungsprozesses der Ärzte und Ärztinnen

Dokumentation: digital und analog

Während der Besuche in den beiden Kliniken fanden wir heraus, dass sich die besuchten Stationen stark dahingehend unterscheiden, wie Informationen mithilfe digitaler Systeme dokumentiert werden. Ärztliche Verordnungen, verabreichte Medikamente, Behandlungen und andere Pflegemassnahmen wurden von Ärzt:innen und Pflegekräften simultan festgehalten. In einer Klinik fand diese Dokumentation digital statt, in der anderen Klinik auf standardisierten Papierbögen — dies macht für unser Projekt einen grossen Unterschied!

Aufwände und Belastung

Die Belastung des Personals schwankt sowohl zwischen Wochentagen als auch während eines Tages, bedingt dadurch, wie viele Patientinnen und Patienten auf der Station sind und wie kritisch ihr Zustand jeweils ist. Hinzu kommen Faktoren wie ein konstant hoher Geräuschpegel durch medizinische Geräte. Viele geben bereits bei weniger kritischen Ereignissen akustisches Feedback. Zusätzlich zu dieser Belastung legten die Angestellten wiederholte, teilweise lange Wege zwischen einzelnen Räumen zurück und konnten nur unregelmässig Pausen einlegen.

User Experience Map zweier Pflegekräfte
User Experience Map zweier Pflegekräfte

Findings verfestigen sich in Personas

Um unser gewonnenes Wissen zu kondensieren sowie wichtige Nutzercharakteristiken und -anforderungen herauszuarbeiten und zu kontextualisieren, erstellten wir mehrere Personas. Personas illustrieren hypothetische Personen, die typische Nutzerinnen und Nutzer repräsentieren. Erstellte Personas werden im Projektverlauf immer wieder hinzugezogen. So können wir sicherstellen, dass prospektive Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich im Fokus bleiben. Zudem ermöglichen Personas eine zielgerichtete Kommunikation zwischen allen Projektbeteiligten.

In manchen Projekten genügt das Erstellen einer einzelnen Persona. Im Kontext von IMEDALytics konnten wir drei Gruppen differenzieren, die wir auf Basis ihrer unterschiedlichen Anforderungen an das System trennten:

  • reguläre Stationsärztinnen und -ärzte

  • Intensivpflegekräfte

  • forschende Ärztinnen und Ärzte

Mithilfe unserer Personas können wir beleuchten, wie sich ihre Anforderungen unterscheiden.

Persona: Hanna Tolle, Assistenzärztin
Persona: Hanna Tolle, Assistenzärztin
Persona: Peter Busch, Pflegefachkraft
Persona: Peter Busch, Pflegefachkraft

Auswirkungen auf unser Design

Ein Wunsch kristallisierte sich während unserer Contextual Inquiries sehr deutlich heraus: Pflegekräfte sowie Ärztinnen und Ärzte möchten ein Entscheidungsunterstützungssystem (Decision Support System; DSS), das Indikation, Risikoeinschätzung, Wahl der idealen Therapie und Überwachung sowie Therapiemanagement unterstützt.Ausserdem betonten insbesondere die Ärztinnen und Ärzte, wie ausgesprochen wichtig es ist, die Entscheidungen eines Systems transparent und nachvollziehbar zu gestalten.

„Das wäre ein Traum.“ (Stationsärztin)

Die verschiedenen Unterziele der zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer, die sie nach Behandlungsphase und Rolle verfolgen (entscheiden, ausführen, überprüfen), ergeben einen Rahmen für unser Design des DSS.

Ausserdem stiessen wir auf Gegensätzlichkeiten, die unsere Designaufgabe beeinflussen:

  1. Ein zukünftiges System sollte die Intelligenz von Maschinen und Menschen zusammenbringen, um eine ideale Versorgung zu gewährleisten. Ein interaktives System muss zudem auch das Wissen und die Fähigkeiten verschiedener Personen sinnvoll zusammenbringen.

  2. Anforderungen und Ziele sind stark vom aktuellen Kontext geprägt; während es manchmal wichtig ist, die Entscheidung transparent und nachvollziehbar darzustellen, kann es in anderen Situationen wichtig sein, die Entscheidung möglichst effizient zu vermitteln, um stressbedingte Fehler zu vermeiden.

Fazit

Für bedeutsames, effizientes UX Design ist es unerlässlich, mit zukünftigen Nutzerinnen und Nutzern zu sprechen und sie im beruflichen Alltag zu beobachten. So stossen sie auf wahre Herausforderungen und Stressoren, die Nutzer und Nutzerinnen massgeblich beeinflussen.

Erst, wenn ein Designvorschlag diese berücksichtigt — und löst — kann es als hilfreich wahrgenommen werden. Besonders bei einem extrem komplexen System wie IMEDALytics muss die Darstellung ausserdem im Einklang mit den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer nach Transparenz oder Nachvollziehbarkeit stehen.

Logo des Bundesministerium für Bildung und Forschung

Zusatz: Das diesem Bericht zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 13GW0280 B gefördert.
Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor:innen.